Bundespräsident Roman Herzog erklärte 1995 den 27. Januar zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus. In der Proklamation heißt es: „Symbolhaft für diesen Terror steht das Konzentrationslager Auschwitz, das am 27. Januar 1945 befreit wurde und in dem vor allem solche Menschen litten, die der Nationalsozialismus planmäßig ermordete oder noch vernichten wollte. Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“
Bundespräsident Walter Steinmeier betonte am Donnerstag in Yad Vashem und heute in Auschwitz die Verantwortung, die damit verbunden ist.
Deshalb versammeln wir uns hier im Kreishaus jedes Jahr, zuerst zu einer Andacht und dann zur Eröffnung einer Ausstellung, die uns vor Augen führt, was damals geschah.
Auschwitz ist Symbol für die Schrecken, aber es gab viele, sehr viele Konzentrationslager, auch in Deutschland, Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Mittelbau-Dora und Neuengamme mit seinen über 80 Außenlagern, so auch in Husum-Schwesing und in Ladelund.
Die Schreckenszeit bleibt für uns unfassbar, und doch gibt es auch welche, die immer noch oder schon wieder diesen Terror leugnen, verharmlosen oder verdrängen. Als könnte ungeschehen gemacht werden, was damals von Deutschland aus getan wurde.
Die Ausstellung, die auf dem Flur gezeigt wird, weist auf die „Kinder vom Bullenhuser Damm“, 10 Mädchen und 10 Jungen, jüdische Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren, an denen grausamste medizinische Experimente vorgenommen wurden
Sie waren im KZ Auschwitz-Birkenau, bis das Lager geräumt wurde, und ab Ende November 1944 im KZ Neuengamme. Als Mitte April 1945 das KZ Neuengamme geräumt werden sollte, alle Spuren beseitigt wurden, viele Häftlinge in andere Lager gebracht und die skandinavischen Häftlinge aus den anderen Konzentrationslagern dort gesammelt wurden, damit sie mit den Weißen Bussen in ihre Heimatländer transportiert wurden, – unter ihnen waren auch ehemalige Häftlinge aus Husum-Schwesing und Ladelund, in den Weißen Bussen, aber auch bei den Todesmärschen – da kam am 20. April der Befehl aus Berlin, diese Kindergruppe mit ihren vier Betreuern in die ehemalige Schule am Bullenhuser Damm, in Hamburg-Rothenburgsort zu bringen, um sie dort mit Gift zu töten. Mit Morphiumspritzen und dem Strick wurde es getan. Dazu wurden noch 24 russische Kriegsgefangene ermordet.
Der Arzt und seine Helfer sowie die Verantwortlichen von Neuengamme flohen. Die Täter, die Parteigenossen, die Mitläuferinnen, die meisten von ihnen verbargen später ihre NS-Vergangenheit. Sie vertrauten darauf, dass sie ganz einfach untertauchen und sicher sein konnten.
Und die Gesellschaft, die Politik, die Kirche schwiegen weithin, aus verschiedenen Gründen.
Doch Erinnerung, Wachsamkeit und Verantwortung sind uns aufgetragen, gerade angesichts des Populismus und Rechtsextremismus sowie des Antisemitismus, bei uns und weltweit.
Liebe Gemeinde,
Wir hörten den kleinen Abschnitt aus der Passionsgeschichte des Lukasevangeliums die Verleugnung des Petrus ( 22,54-62 ). Der vorher so selbstbewusste, sich mächtig fühlende, lautstarke Jünger wurde plötzlich kleinlaut. Er hatte Angst. Er wollte sich nicht gefährden. Seine Zugehörigkeit zu Jesus gab er nicht zu – und dann doch dieses: er weinte bitterlich.
Warum nur können Menschen nicht zu dem stehen, was sie getan, verbrochen oder hingenommen haben? Warum leugnen sie frühere Zugehörigkeiten, schlimme Irrungen und Wirrungen und Vergehen, von denen sie doch innerlich gar nicht frei werden? Warum verdrängen wir Schlimmes?
Irren ist menschlich. Kein Mensch ist ohne Schuld. Das ist wohl wahr. Aber es gibt doch unterschiedliche Stufen von Vergehen und Verbrechen. Zum Menschsein gehört es, sich über seine eigene Schuld klar zu werden, sich mit dem auseinanderzusetzen, was er oder sie getan hat, bewusst oder unbewusst, verblendet oder aus tiefer innerer Überzeugung.
Viele Kirchen haben einen Hahn auf dem Kirchturm, als Erinnerung an die Verleugnung des Petrus, an dieses Wort Jesu „Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Aus Opportunismus seine Identität zu verleugnen, sich wie der Hahn im Winde zu drehen, das ist Feigheit, ja Sünde.
Vor Gott, vor sich selber und vor den Menschen ehrlich zu sein, das ist eine Mahnung für uns alle, eine Notwendigkeit für ein menschliches Miteinander, ein öffentlicher Aufruf zur Wachsamkeit.
Menschenwürde, Gottesebenbildlichkeit – das sind große Worte, aber kleiner geht es nicht, wenn wir ein wirkliches Miteinander anstreben. Dem haben wir uns zu stellen.
Schuldeingeständnis und Vergebung, das ist nicht nur etwas für ein kurzes Intermezzo. Das hat uns unser Leben lang zu bekümmern. Einen Jeden, eine Jede von uns. Uns als Gesellschaft und Kirche.
In Deutschland wurde das Gedenken an die Gräuel der NS-Zeit lange unterlassen. In Hamburg sprach man jahrzehntelang nicht vom KZ Neuengamme und seinen Außenlagern. Auch nicht von den ermordeten Kindern und Erwachsenen vom Bullenhuser Damm. Von staatlicher Seite wurde erst 1992 diese Gedenkfeier am 20. April mitbegangen, nachdem über Jahrzehnte Angehörige der Kinder und der VVN sich dort jedes Jahr versammelt hatten. Dann wurden auch mehrere Straßen nach den Kindern benannt. Die Gedenkfeiern werden inzwischen von Schulen, von der jüdischen Gemeinde und vielen Angehörigen aus aller Welt und von Hamburgern und dem Senat wahrgenommen. Und immer wird am Ende das Kaddisch gesprochen, das jüdische Gebet, so auch heute hier bei uns.
Gott trauen wir an, was uns belastet. Gott bitten wir um Versöhnung, um Frieden, für uns und Israel. Dass wir uns mit aller Kraft für Menschenrechte und Völkerrecht einsetzen. Dass wir uns dessen bewusst bleiben, was der Nationalsozialismus zerstört hat. Einen Schlussstrich darf es niemals geben.
Auch in Nordfriesland und in Husum fiel und fällt das Gedenken schwer.
Es wäre schon interessant, zu erfahren, was die so verschiedenen Menschen hier so gleich nach dem allgemeinen Bekanntwerden der Gräuel der großen und kleinen Konzentrationslager gefühlt und gesagt und getan haben.
Ich zitiere Sätze* aus dem Tagebuch des SS-Stabsarztes Dr. Trzebinski, der die Ermordung der Kinder vorgenommen hatte und dann geflohen und ein paar schöne Tage bei Bauern verbracht hatte: „Nach reiflicher Überlegung beschloss ich für meine Person, zunächst in der aus Storms Novellenschatz bekannten ‚grauen Stadt‘ unterzutauchen. Ich wurde freundschaftlichst aufgenommen, binnen weniger Tage hatte ich mit liebevoller und großzügiger Unterstützung die Uniformstücke und Abzeichen der SS mit denen der Wehrmacht vertauscht und fungierte im dortigen Reservelazarett als Stabsarzt der Wehrmacht.“ Und er lobte einen „lieben Kollegen und Kameraden“, dessen Namen ungenannt bleiben sollte. Und in Bezug auf die Ermordung der Kinder meinte er, dass er nur barmherzig und human gehandelt hätte.
Als Meister der Verharmlosung und Lüge, des Verdrängens und des Verleugnens zeichneten sich viele aus.
Aber es gab auch immer andere, die ihre Stimme erhoben. So wurde 1957 auf dem Husumer Ostfriedhof eine Grabanlage bei den Massengräbern der KZ-Häftlinge von Husum-Schwesing errichtet. In den 80‘ Jahren gründete sich die „Arbeitsgruppe zur Erforschung der nordfriesischen Konzentrationslager“. Das Mahnmal wurde auf dem Gelände Engelsburg eingeweiht. 2002 kam das Stelenfeld hinzu und 2017 dann die Neugestaltung. Der Kreis Nordfriesland hat inzwischen Personal dafür eingestellt. Wir Guides bieten regelmäßig Führungen an, und die Gedenkstätte wird besucht von Menschen aus der Nähe und Ferne. Die Gespräche zeigen immer wieder, wie notwendig die Erinnerung an die NS-Verbrechen sind, notwendig für die gesellschaftlich-politisches Wachsamkeit, für ein glaubwürdiges Bekennen unserer Schuld und für alle Bemühungen, Rassismus, Antisemitismus und Antijudaismus zu überwinden.
Erinnerung ist nicht nur für das persönliche Leben notwendig. Erinnerung muss auch öffentlich erfolgen.
So bleibt es zumindest bedauerlich, dass in der Stadt Husum, durch deren Straßen die Häftlinge von Oktober bis Dezember 1944 zu ihren Arbeitseinsätzen am Friesenwall getrieben wurden, dass es hier immer noch kein einziges Hinweisschild auf dieses KZ-Außenlager gibt. An der B 5 ja, seit dem letzten Jahr. Und die Gemeinschaftsschule Nord hat eine Stolperschwelle in der Süderstraße legen lassen, die an die ermordeten Häftlinge erinnert. Im Jahr 2010 wurde ein Stolperstein für die Mirjam Cohen, die Tochter des Friedrichstädter Rabbiners, vor der Theodor-Storm-Schule gelegt. Aber durch den Abriss des Schulgebäudes wurde er entfernt, sichergestellt, damit nicht mehr sichtbar. In den zahlreichen Schaukästen im öffentlichen Raum auch keine Hinweise auf das Außenlager, das Husum camp.
Warum sind wir hier so zurückhaltend in der Erinnerungsarbeit? Aus Gleichgültigkeit? Reicht es, dass wenige Interessierte davon wissen? Reicht das politische und mediale Erinnern um die Gedenktage herum?
Brauchen wir keine ständigen öffentlich sichtbaren Erinnerungszeichen in Husum? Dürfen wir den jüngeren Generationen vorenthalten, was hier und europaweit getan wurde und was heute wieder propagiert wird?
Verdrängen, verleugnen von Schuld und Unrecht, – das scheint bis heute der leichtere Weg, leichter als zu bekennen und zu benennen, was falsch und böse und zerstörerisch war und ist.
Petrus weinte bitterlich.
Ja, es ist bitter, eigenes Versagen, ob es persönlich oder familiär, gesellschaftlich oder national ist, es ist bitter, sich der Verantwortung zu stellen, aber das ist notwendig. Es kann dann eine Buße sein, die frei und zufrieden und heil macht.
Noch einmal Roman Herzog: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“ Dazu helfe uns Gott.